Yogawissen: Wie Energie fließt

Wenn wir wollen, dass Energie fließt, dann brauchen wir einen Ort, der durchlässig ist. So wie sich ein Fluss seinen Weg durch Täler, Wald und Wiesen bahnt, so bahnt sich auch unsere Lebensenergie ihren Weg. Wenn ein Fluss auf ein Hindernis trifft, wie einen Felsen oder einen Berg, dann umfließt er das Hindernis anfangs und mit der Zeit löst er es auf. Sanft und doch nicht zu stoppen. Am Ende seiner Reise mündet der Fluss ins Weltmeer, den großen Ozean, wo er sich mit allen anderen Flüssen verbindet.

So können wir uns auch unser eigenes Energiesystem vorstellen: fließend, strömend, sanft und kraftvoll.  Wenn wir in die Yoga-Schriften schauen, finden wir für die Energiebewegung in unserem System genau dieses Wort: Nadi.

Nadi ist Sanskrit und bedeutet Strom, Fluss, Leitung, auch Vene und Arterie.

Verwandt mit dem Wort Nad – Ton oder Klang[i], der sich ja auch „flüssig“, als Wellen bewegt, ermöglichen unsere Nadis, also unsere feinstofflichen Energiekanäle, den Transport von Energie in alle Körperbereiche und Schichten. Wie in einem riesigen, hauchfeinen, unvorstellbar differenzierten Netz aus Leitungen wird Information transportiert.

So durchströmt Bewusstsein unser gesamtes Sein. Es ist überall das gleiche Bewusstsein, nimmt auf seiner Reise nur unterschiedliche Energiedichten an. Es zeigt sich als Gedanken, die als feinstofflich bezeichnet werden, aber auch als scheinbar feste Stoffe wie Muskeln, Blut und Knochen. Zwischen den Festigkeitsebenen gibt es keinerlei Grenzen, sie gehen ineinander über und bilden so ein Kontinuum.

Durch dieses energetische Kontinuum sind wir sozusagen mit all unseren Erlebens-Ebenen verbunden: Vom Gedanken, den Gefühlen bis hin zu unserem festen Fleisch. Und auch mit allen anderen Wesen der Erde und dem gesamten Kosmos.

Da gibt es nichts Trennendes, nichts Zweites.

Wir sind ein Organismus.

Je mehr wir uns als isoliert und abgetrennt betrachten, desto weniger kann die bewusste Wahrnehmung der göttlichen Bewusstseinsenergie erfahren werden. Je „erwachsener“ wir werden, desto häufiger erfahren wir uns als abgetrennt vom Rest der Welt. Denn zwischen „der Welt“ und uns haben sich mentale, psychische und dann auch körperlich sichtbare Trennschichten oder energetische „Verdichtungen“ aufgebaut. Das ist ein Prozess, der stattfindet, wenn es uns nicht bewusst ist. Solange wir präsent sind, halten wir nichts in unserem System fest, doch sobald wir unachtsam sind, geschieht das automatisch.
Eben unbewusst. Und wer ist schon immer präsent?
Jede Erinnerung, jedes Erlebnis, vor allem die problematischen, werden also als Energieverdichtung eingelagert. Sie entstehen durch Schock, Trauma, abgespaltene Gefühle oder Verletzungen.

Blockaden sind nichts anderes als eine Unterbrechung in unserem freudvollen Bewusstseinstrom, bzw. eine Verdichtung von Negativemotionen, also dem Gefühl der Abgetrenntheit und Isolierung. Diese Abgetrenntheit unterbricht dann den Informationsfluss, bzw. es gelangen die „falschen“ Informationen in Umlauf. Man kann sich das vorstellen wie in einem Fluss, der sein Strandgut aus Ästen, Blättern und Müll an Engstellen nicht weiterleiten kann. Dort sammelt sich dann der Abfall und das Gebiet dahinter trocknet aus. So trocknen unsere Organe regelrecht aus, wenn wir sie abtrennen von positiven Empfindungen und stattdessen zumüllen mit Negativemotionen wie Angst oder Wut.

Hier muss kurz erwähnt werden, dass alle Emotionen ihre Berechtigung bzw. auch eine Aufgabe haben. Wenn ich sie hier als „negativ“ bezeichne, dann nur, weil die Kultivierung dieser Emotionen problematische körperliche Konsequenzen hat. Wut und Ärger, genauso wie Angst, schütten Stoffe aus, die uns auf Dauer schaden. Bitte versteht hier, dass wir im Yoga nichts grundsätzlich als „negativ“ oder „positiv“ bewerten, sondern nur versuchen anhand der Konsequenzen zu beschreiben, was hilfreich und was nicht hilfreich für uns ist.

So verstehen wir, dass Menschen, die sich ängstlich oder schamvoll ducken, dabei den Kopf einziehen und ihren Blick selten heben, im oberen Brustkorb immer mehr einsinken bis sie tatsächlich einen Buckel haben. Oder dass Menschen, die ihre Herzensfreude wenig leben und den Herz-Raum energetisch abschirmen, ebendort auf körperlicher Ebene Herzprobleme bekommen.

Umgekehrt erfreuen sich Menschen bester Gesundheit, wenn sie Phasen des Glücks und der Zufriedenheit erleben. Heilung findet statt, wenn der Mensch Freude, Sinn und Liebe erlebt. Denn dann sagt sein System automatisch: Ja. Das lohnt sich hier!

Wenn Energie also ungehindert fließen soll, braucht es ein offenes Bewusstsein, eine offene, leichte, durchlässige Haltung.
Eine Haltung, die Raum gibt.
Weite, Freude.
In Freude öffnet sich das Energie System eines jeden Menschen. Das können wir sogar sehen: Sie „strahlen“ vor Glück.

Und da alle unsere Ebenen, von der grobstofflichen des Körpers bis zur feinstofflichen unserer Gedanken nicht nur verbunden sind, sondern sich entsprechen, passiert im Körper genau das Gleiche, was im Geist passiert. Das ist vielleicht nicht gleich zu verstehen und ist auch für uns, die wir von getrennten Kategorien wie „Körper“ und „Psyche“ und „Geist“ sprechen, etwas ungewohnt. Doch kann man sehen, dass sich alles, was sich mental abspielt, im gleichen Augenblick auch physisch abspielt. Wenn an einer Glocke ein Ton angeschlagen wird, ist die Schwingung materiell in der Bewegung des Metalls zu sehen, der Ton zu hören, im Körper zu spüren und mental zu erfassen. Und das alles gleichzeitig.

Genauso ist es in unserem System: Wir spüren, denken, fühlen, empfinden körperlich und erfahren Information im Stofflichen wie im Gedanklichen gleichzeitig und untrennbar.

Jederzeit können wir unsere Energie mit dem Bewusstsein von Liebe, Freude und Verbundenheit wieder in Fluss bringen.

Das tun wir, indem wir uns bewusst machen, dass die Voraussetzung für Freiheit die Verbundenheit ist. Dass die Voraussetzung für Fließen die Offenheit ist. Dass die Voraussetzung für unser Leben unser Bewusstsein ist.

So ist die innere Haltung im Yoga immer eine freie, offene, fließende, durchlässige und freudvolle.

Unsere Bewegungen tun uns gut und strahlen zu jeder Minute Leichtigkeit und Freude aus. Wir sind in gutem Kontakt zu unserem lieben Körper und behandeln ihn wie unsere Liebsten. Wir lassen den Atem frei fließen, so wie er natürlich geschieht.

Wir verstehen, dass wir es sind, was sich da bewegt. Und dass wir jetzt – und nur jetzt – leben und immer das sind, was wir sein wollen. Einzigartig und verbunden mit dem ganz Großem.

Wenn wir einmal verstehen, dass wir durch Yoga nirgendwo hinkommen, sondern uns im Yoga einfach nur erleben dürfen, dann sind wir weise.

Dann sind wir im Fluss.

Und machen uns auf den Weg zum großen Ozean.

Om Shanti.


[i] Das Thema Klang ist ebenfalls interessant, würde hier aber zu viel Raum einnehmen. Klang spielt im energetischen Yoga eine große Rolle, denn Klänge, Mantras rufen mit ihrer Schwingung besondere Energiemuster im Raum hervor, besonders gut sichtbar im Wasser. Unser Körper besteht hauptsächlich aus Wasser und lässt sich dementsprechend vom Klang strukturieren.